Im neunzehnten Jahrhundert war es oft eine Frage der Wahl, Ukrainer*in zu sein. Die ukrainische Stadtbevölkerung sprach in der Regel andere Sprachen als Ukrainisch: meist Polnisch, manchmal Deutsch in den Städten des von den Habsburgern beherrschten Galiziens im Westen, Russisch in den Städten des Russischen Reiches, Jiddisch in den jüdisch besiedelten Städten auf beiden Seiten der russisch-österreichischen Grenze. Die Mehrheit der Landbevölkerung hingegen sprach ukrainische Dialekte und hielt an kulturellen Traditionen fest, die wir heute als typisch ukrainisch bezeichnen würden. Die wenigen Informationen, die wir über ihr Selbstverständnis haben, deuten jedoch darauf hin, dass sich die meisten in Ermangelung politischer Rechte eher mit ihrem Dorf, ihrer Religion oder der Bauernschaft identifizierten als mit einer größeren nationalen Gemeinschaft. Diejenigen, die in die Städte zogen und es schafften, ihren sozialen Status zu erhöhen, legten in der Regel ihre ländlichen Dialekte ab. Sie wendeten sich Russisch und Polnisch zu und sprachen in der ersten Generation mit schwerer Zunge, während sich ihre Kinder weitgehend in die russisch- oder polnischsprachige städtische Gesellschaft integrierten.
Als die ukrainische Nationalbewegung in der Mitte des 19. Jahrhunderts an Fahrt gewann, waren einige ihrer Aktivist*innen ehemalige Dorfbewohner*innen, Söhne und Töchter von Bauern und Bäuerinnen oder Landpfarrern, die sich nicht vollständig assimiliert hatten und eine starke Verbindung zur ukrainischsprachigen ländlichen Kultur bewahrten. Aber viele waren es nicht. Bei den patriotischen Gelehrten, die sich in den 1860er und 1870er Jahren in den ukrainophilen Kreisen Kyivs versammelten, handelte es sich um einen bunt zusammengewürfelten Haufen, den nicht sein gemeinsames ethnisches Erbe, sondern seine politischen Überzeugungen vereinte. Sie setzten sich gemeinsam für die ukrainischen Bauern und Bäuerinnen ein, die der russische Staat als Kleinruss*innen, als Teil einer größeren russischen Nation, betrachtete. Die Ukrainophilen waren damit nicht einverstanden. Für sie waren diese Bauern und Bäuerinnen der Kern einer autonomen ukrainischen Nation, einer Nation mit eigener Sprache und Kultur. Um ihr Schicksal zu verbessern, musste der russische Staat föderalisiert werden, indem man die Bauern und Bäuerinnen von der Last der Assimilation befreite und sie in ihrer eigenen ukrainischen Sprache unterrichtete – einer Sprache, die viele ukrainophile Intellektuelle nicht sehr gut beherrschten.
Ukrainophile, nicht Ukrainophone
Der temperamentvollste Kiyver Ukrainophile war möglicherweise Wolodymyr Antonowytsch. Der Professor für Geschichte an der Universität der Stadt stammte ursprünglich aus einer polnischsprachigen Familie. Er wuchs auf einem Adelsgut in der ländlichen Ukraine auf und machte sich mit den Traditionen des polnischen Adels vertraut, der sich als kulturelle Elite der Region verstand und die ukrainisch sprechenden Bauern und Bäuerinnen oft verachtete, weil er sie für ungebildet und faul hielt. Als Jugendlicher besuchte Antonowytsch eine russischsprachige Schule und studierte an den Universitäten in Odesa und Kiyv, bevor er eine eigene akademische Laufbahn einschlug. Doch Antonowytschs Weg führte ihn weder zur polnischen Nationalität seiner Verwandten noch zur Assimilation an die russische imperiale Kultur.
Als eifriger Leser der französischen Aufklärungsphilosophie interessierte sich der junge Student zunehmend für das Leben der ukrainischsprachigen Bauern und Bäuerinnen, in denen er ein demokratisches Element der sozialen Ordnung der Region erkannte. Er und seine Freunde kleideten sich wie Bauern und begannen, über das Land zu wandern, um das ländliche Leben kennenzulernen. Sie begannen, sich als Brüder der Bauern und Bäuerinnen in einer eigenen ukrainischen Nation zu sehen. Die patriotischen polnischen Adligen waren darüber nicht erfreut. Sie verspotteten Antonowytsch und seine Freunde als chłopomani (Bauernliebhaber) und beschuldigten sie, Verräter zu sein, die die polnische Nation verraten hätten.Im Jahr 1862 verfasste Antonowytsch eine Antwort, in der er diesen Beinamen mit Stolz annahm:
Ich bin tatsächlich ein ‚Überläufer‘. […] Durch den Willen des Schicksals wurde ich in der Ukraine als Angehöriger des Adels geboren. In meiner Kindheit besaß ich alle Gewohnheiten der adligen Jugend, und ich teilte lange Zeit alle Klassen- und nationalen Vorurteile der Leute, in deren Kreis ich aufwuchs. Als ich jedoch das Alter der Selbsterkenntnis erreichte, […] sah ich, dass ein Mann des polnischen Adels, der in Südrussland lebte, vor dem Gericht seines Gewissens nur zwei Möglichkeiten hatte. Die eine bestand darin, das Volk, in dessen Mitte er lebte, zu lieben, sich mit seinen Interessen zu identifizieren, zu der Nationalität zurückzukehren, die seine Vorfahren einst aufgegeben hatten, und, soweit möglich, durch unermüdliche Arbeit und Liebe das Volk für das ihm angetane Übel zu entschädigen. […] Die zweite Wahl für denjenigen, dem die moralische Kraft für die erste fehlte, bestand darin, in polnisches Gebiet auszuwandern, das vom polnischen Volk bewohnt wird, damit es einen Schmarotzer weniger gibt […]. Ich entschied mich natürlich für die erste […].
Für Antonowytsch war es also eine moralische Pflicht der ukrainischen Eliten, den Bauern und Bäuerinnen zu dienen und ihre Kultur zu assimilieren. Sein Text zeugte von einer fast religiös empfundenen nationalen Bekehrung – und tatsächlich konvertierte er vom Katholizismus zur Orthodoxie – sowie zu einem Evangelium der freiwillig gewählten Nationalität. Nachdem er aus politischen Gründen die ukrainische Nationalität angenommen hatte, lernte Antonowytsch die ukrainische Sprache und ermutigte andere ausdrücklich, dies ebenfalls zu tun. Einige seiner Student*innen und Freund*innen in den gebildeten Kreisen Kiyvs folgten seinem Weg. Zu den ukrainophilen Kreisen (Hromada) jener Zeit gehörten viele russische Muttersprachler*innen, sowohl neu aus Russland angekommene als auch Nachkommen assimilierter einheimischer Familien, ebenso wie der jüdische Rechtsanwalt Vladimir (Wolodymyr) Berenshtam und der halbschweizerische Ökonom Mykola Ziber (Niclaus Sieber). Viele von ihnen beherrschten die ukrainische Sprache nie ganz, sprachen sie doch auffallend oft mit ukrainophilen Mitbürger*innen und griffen bei komplizierteren Themen auf Russisch zurück. Auch waren die Bedingungen für den Wechsel zu einer Sprache, die der russische Zarenstaat wiederholt aus der Presse und den Schulen verbannt hatte, nicht gerade günstig, so dass ihre Sprecher*innen den Ermittlungen der Behörden ausgesetzt waren.
Flexible Identität
Natürlich war auch der umgekehrte Weg möglich, und viele sozial mobile Ukrainer*innen assimilierten sich an die russische imperiale Kultur. Einige wurden sogar zu Anführer*innen der aufkeimenden russischen Nationalbewegung. [3] Eine solche bewusste Entscheidung für eine Nationalität war nicht nur in der Ukraine üblich. In Böhmen und Mähren zum Beispiel identifizierten sich einige Deutschsprachige auch als Tschech*innen und lernten die tschechische Sprache, um eindeutige Mitglieder der Nation zu werden (und umgekehrt). Aber in der Ukraine, wo die Sprache der Bauernschaft mit den dominierenden Kulturen der Nachbarländer Russland und Polen verwandt war und Russ*innen und Ukrainer*innen die orthodoxe Religion teilten, war die nationale Konversion und Assimilation in alle Richtungen einfacher als anderswo.
Das Phänomen war so alltäglich, dass es bemerkt und kommentiert wurde. Der polnische Literaturwissenschaftler Jerzy Stempowski, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Podolien aufwuchs, gab später den folgenden ironischen und zugleich scharfsinnigen Bericht über die Nationalitätenproblematik in seiner Jugend:
Die Söhne von Polen wurden manchmal zu Ukrainern, die Söhne von Deutschen und Franzosen zu Polen. […] ‚Wenn ein Pole eine russische Frau heiratet‘, pflegte mein Vater zu sagen, ‚dann sind die Kinder meist Ukrainer*innen oder Litauer*innen‘. […] In diesen Zeiten war die Nationalität kein unvermeidliches rassisches Schicksal, sondern weitgehend eine Frage der freien Wahl. Diese Wahl war nicht auf die Sprache beschränkt. […] jede Sprache war Träger historischer, religiöser und gesellschaftlicher Traditionen; jede bildete ein Ethos, das durch Jahrhunderte von Triumphen, Niederlagen, Träumen und Sophisterei geprägt war.
Von der erzwungenen Staatsangehörigkeit zur Staatsbürgerschaft
Im Zeitalter der Massenpolitik, insbesondere mit dem Beginn der Sowjetherrschaft, änderte sich diese Situation grundlegend. Obwohl die Nationalität angeblich auf Klassenherrschaft beruhte, institutionalisierte der Sowjetstaat sie sowohl territorial, mit nationalen Republiken, als auch individuell, indem er die Nationalität zu einer unveränderlichen und vererbbaren Kategorie machte, die in Pässen fixiert wurde. Im Zeitalter des totalitären Anspruchs, ursprüngliche nationale Kollektive zu repräsentieren, wurde die Nationalität in Stempowskis Worten zunehmend zu einem ‚unvermeidlichen rassischen Schicksal‘. Anders als im neunzehnten Jahrhundert hatten die Bürger*innen eine offizielle Nationalität, die sie auch dann behielten, wenn sie sich einer anderen Sprache vollständig anpassten. Millionen assimilierter Russischsprachiger in der Ukraine wurden vom Staat als Ukrainer*innen eingestuft, und viele von ihnen sahen sich auch als solche.
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion schaffte die unabhängige Ukraine die Kategorie der Staatsangehörigkeit im Pass ab. Stattdessen erkannte der Staat nur noch die Staatsbürgerschaft an, und das Verständnis der Gesellschaft von der ukrainischen Nation veränderte sich in Richtung Staatsbürgerschaft. Die ethnische Herkunft wurde zu einer weniger wichtigen Kategorie, da viele Menschen aus ethnisch russischen Familien sich entweder nicht mehr als Russ*innen identifizierten oder sich als russischsprachige Bürger*innen der Ukraine sahen. Soziologische Erhebungen zeigen, dass der Prozentsatz der Menschen, die sich in erster Linie als Ukrainer*innen identifizieren, von den 1990er bis in die 2010er Jahre stetig zunahm. Gleichzeitig haben die meisten russischsprachigen Ukrainer*innen ihre Sprachgewohnheiten nicht drastisch geändert.
Mutwillige Bekehrung
Die Euromaidan-Proteste von 2013-2014 und Russlands Aggression gegen die territoriale Integrität der Ukraine haben die Ukrainer*innen noch mehr hinter der Flagge versammelt. Angesichts einer existenziellen Bedrohung haben Millionen von Menschen mit unterschiedlichem ethnisch-linguistischem und religiösem Hintergrund ihre Loyalität zur Ukraine erklärt, nicht zuletzt, weil sie diese als demokratischere und liberalere Alternative zu Putins ‚russischer Welt‘ sehen. Ironischerweise ging der Wandel hin zu einer stärker staatsbürgerlich geprägten Auffassung der ukrainischen Nation mit einer Tendenz zur Einsprachigkeit einher. Wie im neunzehnten Jahrhundert sind einige Russischsprachige aus politischen Gründen bewusst zur ukrainischen Sprache gewechselt.
Diese Entwicklung steht in engem Zusammenhang mit der Instrumentalisierung des Russischen durch das Putin-Regime und seiner fadenscheinigen Behauptung, die Rechte russischsprachiger Menschen auf der ganzen Welt zu verteidigen, als Rechtfertigung für seinen Krieg gegen die Ukraine. Mein Gastgeber in Kyivs charmantem Stadtteil Podil während meines letzten Besuchs im Jahr 2019, ein sechzigjähriger Mann, der in einer russischsprachigen Familie aufgewachsen ist, war ein typisches Beispiel dafür. Er würde kein Russisch mehr sprechen, erzählte er mir auf Ukrainisch mit einem erkennbaren russischen Akzent. Er fühlte sich fast körperlich nicht in der Lage, die gleichen Wörter zu benutzen wie Wladimir Putin.
Ein berühmtes Beispiel ist Wolodymyr Zelens’kyi, der ukrainische Präsident, der in einer russischsprachigen Familie aufwuchs und seine Karriere als Komiker auf Russisch machte. Inzwischen ist seine sprachliche Ukrainisierung so weit fortgeschritten, dass er manchmal – vielleicht auch nur zum Schein – seine Mitarbeiter*innen bittet, ihm bei der Übersetzung eines Begriffs ins Russische zu helfen, wenn er russischsprachigen Medien ein Interview gibt.
Für viele junge Ukrainer*innen ist die Entscheidung für den ukrainischen Staat und seine Sprache eine symbolische Absage an die politische Lähmung im postsowjetischen Raum. Die Autorin Sasha Dovzhyk beispielsweise hat kürzlich beschrieben, wie sie von einer russischsprachigen Jugendlichen in der südukrainischen Stadt Saporischschja zu einer ukrainischsprachigen Intellektuellen wurde.
Für Dovzhyk waren es die Euromaidan-Proteste, die sie mit dem Projekt einer demokratischen Zukunft der Ukraine verbanden, im Gegensatz zum homophoben Autoritarismus Russlands. Die Erfahrung einer mächtigen antiautoritären Bewegung bot eine Perspektive auf das, was sie heute als eine Sprache der imperialen Unterdrückung wahrnimmt: ‚Eine solche Sprache‘, schreibt Dovzhyk, ‚verfeinert Schichtungen, entkräftet das Denken und lässt einen schließlich bei dem Gedanken erschaudern, seine Wut auf die Höhergestellten auszudrücken‘.
Nationalität vor Sprache
Nicht alle patriotischen Ukrainer*innen gehen in ihrer Ablehnung der russischen Sprache so weit wie Dovzhyk. Für viele russischsprachige Menschen ist das Ukrainische nach wie vor eher ein symbolisches Zeichen ihrer Identität als ein reguläres Kommunikationsmittel. Untersuchungen von Soziolog*innen wie Wolodymyr Kulyk legen jedoch nahe, dass politisch motivierte Sprachwechsel in den östlichen und südlichen Regionen der Ukraine inzwischen ein weit verbreitetes Phänomen sind. Natürlich sollten Erklärungen, Ukrainisch sei entweder eine ‚Muttersprache‘ oder eine ‚Gefälligkeitssprache‘, nicht immer für bare Münze genommen werden. In Anbetracht der gegenwärtigen Situation geben manche vielleicht vor, mehr Ukrainisch zu sprechen, als sie es tatsächlich tun, weil sie es für politisch angemessen halten. Die weit verbreitete Zweisprachigkeit in der ukrainischen Gesellschaft ermöglicht es jedoch vielen Ukrainer*innen, relativ leicht zwischen den Sprachen zu wechseln, auch wenn ihr Ukrainisch gelegentlich noch russische Wörter oder Abwandlungen russischer Ausdrücke enthält. Selbst einsprachige Russischsprachige im Land sind mit dem Ukrainischen vertraut, da sie häufig mit dieser Sprache in Berührung kommen, sei es im Fernsehen oder bei Begegnungen mit ukrainischsprachigen Nachbar*innen.
Als Wladimir Putin sich aufmachte, die russischsprachigen Ukrainer*innen zu ‚befreien‘, hat er ihre Prioritäten völlig missverstanden. Die meisten waren loyale Bürger*innen der demokratischen Ukraine und hatten wenig Interesse daran, Untertanen von Putins kleptokratischer Diktatur zu werden. Für viele war dies sogar wichtiger als die Beibehaltung ihrer Muttersprache. Die Zukunft der russischen Sprache in der Ukraine ist daher unklar. Millionen von Ukrainer*innen werden wahrscheinlich zumindest in einigen Situationen weiterhin Russisch verwenden und gleichzeitig loyale Bürger*innen des ukrainischen Staates bleiben. Viele von ihnen werden jedoch froh darüber sein, dass ihre Kinder nur auf Ukrainisch unterrichtet werden. Daher ist es wahrscheinlich, dass die jüngeren Ukrainer*innen, die Russisch immer stark mit dem kriminellen Putin-Regime in Verbindung bringen werden, die am meisten Ukrainisch sprechende Generation in der modernen Geschichte der Ukraine werden. Für sie wird es eine Selbstverständlichkeit sein, Ukrainer*in zu sein und Ukrainisch zu sprechen. Bis auf Weiteres werden die ukrainische Identität und die ukrainische Sprache jedoch wie im neunzehnten Jahrhundert ganz bewusst gewählt werden.
Dieser Artikel wurde im Rahmen des Jugendprojekts „Vom Wissen der Jungen. Wissenschaftskommunikation mit jungen Erwachsenen in Kriegszeiten“ veröffentlicht, gefördert von der Kulturabteilung der Stadt Wien.